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S.KRAUSE

Kafkas Roman Der Proceß
Entfremdung, Schuld und der Tod

von
Steve Krause


"Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Mit diesen Worten fängt Franz Kafkas Roman Der Proceß an und stellt uns eine Welt vor, in der Josef K.s Leben in ein dunkles Labyrinth der Schuldverdacht, Entfremdung und des Gerichts verwandelt wird. K. wird verhaftet, aber wird nie physisch ins Gefängnis geworfen - seine Welt wird sein Gefängnis, und während des Romans probiert er seine Möglichkeiten aus, das Gericht und sein Urteil zu vermeiden, ohne daß die Frage seiner Schuld je beantwortet wird. Er geht weiter an seine Arbeit in der Bank, aber sein Prozeß dringt immer tiefer in sein Leben hinein, bis er am Ende wie ein Hund in einem kleinen Steinbruch von zwei Henkern umgebracht wird.

In der Zeit nach der Veröffentlichung des Romans ist das Werk vielfach und vielfältig interpretiert worden. Der Roman wurde dramatisiert, mehrmals verfilmt und von Kritikern und Germanisten untersucht, analysiert, kritisiert und sogar verkannt. Weil der Roman auf der einen Seite ohne überflüssige Naturbeschreibungen, Figurenbeschreibungen und klare Aussagen des Autors geschrieben wurde und auf der anderen Seite eine dichte Symbolik enthält, ist das Werk unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Interpretationsmöglichkeiten offengeblieben.

Eine sichere Möglichkeit ist, sich streng an den Text zu halten, und nur das herausziehen, was man mit dem Text selbst 'beweisen' kann. Deshalb ist diese Arbeit hauptsächlich eine Analyse von Kafkas Roman Der Proceß und davon, wie Gefühle von Entfremdung in diesem Werk ausgedrückt werden. Andere Methoden und Quellen sollen als eine Ergänzung benutzt werden. Ein Thema, das häufig in Kafkas Werken und insbesondere im Proceß auftaucht, ist die Entfremdung des modernen Menschen - eine Idee, die durch das Schuld-Thema, die labyrinthische Welt und K.s eigene Selbstvergessenheit unterstützt und ausgedrückt wird. Ein anderes Hauptthema im Roman ist das Gericht und K.s Verhältnis dazu. Ich würde weiterhin behaupten, daß die mittleren Kapitel des Romans als K.s Gelegenheit für Selbstanalyse und Selbstfindung dienen, obwohl er diese Gelegenheit versäumt und sogar vermeidet.

Wie seine Zeitgenossen beschäftigt sich Kafka mit der menschlichen Entfremdung in der modernen Gesellschaft, aber statt die Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen, zeigt Kafka in dem Proceß wie der Mensch selbst für seinen geistlichen Zustand verantwortlich ist, und wie der Tod nicht nur die letzte, sondern auch die einzige Antwort ist. Die Entfremdung des Menschen von der Natur, der Gesellschaft, Gott und sich selbst ist ein Thema, das in der Literatur dieses Jahrhunderts eine große Rolle gespielt hat. Mit der industriellen Revolution und den massiven Einwanderungen von Menschen in die Städte ist die Entfremdung von der Natur und der Gesellschaft in den Vordergrund gekommen, besonders bei den Naturalisten, Neuromantikern und Expressionisten. Die Stadt wird als etwas Ungeheures gezeichnet, und die Natur, obwohl idyllisch, ist die Heimat des bösen "Welt-Willens". Aber die Entfremdung als philosophisches und literarisches Motiv ist nichts Neues, sondern sie hat eine Geschichte, die durch die Jahrhunderte bis zu unserer Gegenwart geht. Auf diesem Hintergrund, entwickelt Kafka seine Vorstellung von der Entfremdung und vereinbart sie mit der Schuld.

Obwohl die Entfremdung einer der Lieblingsthemen der Dichter und Intellektuellen dieses Jahrhunderts gewesen ist, hat das Thema selbst eine lange Geschichte, die zurück in biblische Zeiten geht. Eine Art Entfremdung ist die Entfremdung von Gott, diese Art wird am besten in der biblischen Geschichte von Hiob erzählt. Das Leben ist ohne eine Verbindung zu Gott unerträglich, und diese Art Entfremdung taucht in der christlichen und jüdischen Literatur immer wieder auf. Während der Romantik wurde eine andere Art Entfremdung wichtiger als je zuvor: die Entfremdung von der Natur und dem natürlichen und idyllischen Urzustand des Menschen. In den Gedichten der Romantiker und Neuromantiker war die Natur ein Paradies und die Urheimat der Menschen, wie zum Beispiel in "Frühlingslied" von Hofmannsthal.

Unter den Expressionisten wurde die Natur zu einem Ungeheuer, das gegen die Menschen kämpfte. In den Werken Hermann Hesses ist die reine Natur zwar noch immer ideal, aber die Natur, die die Menschen kennen, wird von der modernen Gesellschaft pervertiert und ist unrein. Dieser gesellschaftliche Einfluß auf die Menschen und die Natur wurde sowohl von den Sozialisten als auch von den Naturalisten beschrieben. Es ist jetzt die ungeheure Natur der modernen mechanisierten und kapitalistischen Gesellschaft, die für die menschliche Armut und Unfreiheit verantwortlich ist. Bei den späteren Existentiellisten aber wurde der Mittelpunkt wieder der Mensch selbst und seine Unfähigkeit, in einer bedeutungslosen Welt zu leben.

Zunächst wird die Entfremdung der Hauptfigur Josef K. durch seine Unfähigkeit dargestellt, mit sich selbst und der Außenwelt richtig umzugehen, nachdem er verhaftet wird. Er benimmt sich, als sei er verwirrt, und tut vieles, was ihm ungewöhnlich ist. Diese Ich-Spaltung und Selbstvergessenheit weist auf weitere existentielle Entfremdung hin.

Schon im ersten Kapitel sehen wir, wie K. sich ungewöhnlich benimmt. Natürlich kann man nicht auf Leute, die einem im eigenen Zimmer überfallen, vorbereitet sein, aber K. kommt nicht wieder zur Besinnung. Zum Beispiel versucht er eine Machtposition zu finden: " 'Ich will weder hierbleiben noch von Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen' " sagt K. Und weiter: " 'Ich will doch Frau Grubach -' " aber ihm antwortet man nur mit " 'Nein' " und " 'Gehen Sie in Ihr Zummer und warten Sie' " (Kafka, 10-11). Er versucht immer wieder ohne Erfolg einen Platz im Gespräch zu finden. Besonders in seinem Gespräch mit dem Aufseher wird K.s Verwirrung klar. Wenn er gefragt wird, ob das, was er gerade erlebt hat, ihm überrascht habe, antwortet er: " '...gewiß bin ich überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht...ich bin allerdings sehr überrascht...' " (Kafka, 19). Ihm ist die Verhaftung aber ein großer Spaß, er nimmt es " 'nicht zu schwer' " (Kafka, 19) und er findet, es kann " 'nicht viel Wichtigkeit haben' " (Kafka, 20), obwohl er sich wegen des ganzes Erlebnis aufgeregt hat und schon am Selbstmord gedacht hat. Seine Gedanken sind ganz durcheinander, und er gibt zu, er hat keinen Grund, Selbstmord zu begehen:

Es wunderte K.,...daß sie ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zuhnfache Möglichkeit hatte sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, mal aus seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu tun. Es wäre so sinnlos gewesen sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dessen dazu nicht imstande gewesen wäre. (Kafka, 16-17)

Seine Gedanken an Selbstmord sind Fluchtgedanken - nicht die Gedanken eines bürgerlichen Menschen, der in einer Bank arbeitet.

Im zweiten Kapitel zeigt sich K als verwirrt, und immer noch unfähig, mit seinen früheren Erlebnissen mit dem Aufseher und den Wächern fertigzuwerden. In seinen Gesprächen mit Frau Grubach und Fräulein Bürstner versucht K. zu erklären, warum er am Morgen so durcheinander war, aber seine Versuche beweisen nur, daß er noch verwirrt ist, und daß diese Verwirrung und Vergessenheit keine momentane Eigentümlichkeit sind, sondern eigentlich sein normaler Zustand sind. Am Abend des ersten Tages tut er etwas Ungewöhnliches: er geht sofort nach Hause. Normalerweise geht er in eine Bierstube oder besucht ein Mädchen namens Else, aber er glaubt, daß durch:

...die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. (Kafka, 26)

Die Unordnung ist in der Welt K.s - nicht nur in der Wohnung - und er glaubt, er sei der Mittelpunkt. Wie im ersten Kapitel versucht er ohne Erfolg, seinen Platz zu finden. Unordnung ist Unklarheit, und was K. will, was seine Ziele sind, und wie er sie erreichen will, ist ihm unklar. Er glaubt, er könne sein Leben wieder auf die richtige Spur bringen, wenn er alles Frau Grubach erkläre:

"Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche", dachte er, "...Desto wichtiger ist es, daß ich es tue. Nur mit einer alten Frau kann ich davon sprechen." (Kafka, 28)

Aber zur selben Zeit kann er nicht mit der ganzen Sache fertigwerden. Er muß mit jemandem darüber reden, aber zugleich findet er es alle unwichtig: " '[Ich] halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes sondern überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es.'" (Kafka, 28)

Seiner Meinung nach hätte er besser gehandelt, wenn er gefrühstückt hätte, oder wenn er in der Bank gewesen wäre. Die eine Seite von K.s Persönlichkeit ist eine starke Maske, die er vorbereiten muß, und die ihm hilft, seine zwischenmenschlichen Beziehungen zu beherrschen. Die andere ist aber schwach, hilflos und, wie wir im ersten Kapitel sahen, verzweifelt und vewirrt.

Seine Unsicherheit wird bei seiner Begegnung mit Fräulein Bürstner anders ausgedrückt. Er erkennt sein Ziel nicht, und das, was er sagen will, kommt durcheinander. Er will zum Beispiel nach ihr rufen, aber seine Stimme "klang wie eine Bitte, nicht wie ein Anruf" (Kafka, 33). Obwohl er immer noch behauptet, seine Verhaftung sei nicht dringend, glaubt er, Fräulein Bürstner davon erzählen zu müssen. Er sagt, er sei nur verhaftet worden, erklärt aber dann, es sei schrecklich gewesen. In den ersten beiden Kapiteln sehen wir die Unfähigkeit K.s, zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen zu unterscheiden. Er kann seine Erlebnisse nicht gut bewerten, und es ist ihm unmöglich, seinen Platz zu finden.

Bei seiner ersten Begegnung mit dem Gericht wird die Ferne zwischen K., der Welt und den anderen Figuren noch deutlicher gemacht. Um das Gericht zu finden, muß er einen Weg betreten, der ihm fremd ist. Endlich findet er das Gerichtszimmer und geht hinein. Unsicher, wo sein Platz ist, versucht er nocheinmal die Macht zu ergreifen. Er vergißt, daß er derjenige ist, der untersucht wird, und er redet die Leute an, ohne es zu wissen, wer seine Zuhörer sind. Sein unverdientes Selbstvertrauen führt ihn dazu, daß er vergißt, wo er ist und wen er anredet, und er geht einfach ohne Zusammenhang mit dem Raum und der Zeit weiter:

K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf, schärfer als er es beabsichtig hatte...Es hätte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende... (Kafka, 51)

Es ist K. nicht klar, daß die Leute über ihn und nicht mit ihm lachen. Daß sie gespannt sind, ist nur eine Hoffnung K.s. K.s Vorstellung der Wirklichkeit ist nicht mit der Wirklichkeit vereinbar, die die anderen Figuren erleben. Er geht weiter und greift den Untersuchungsrichter an und erklärt, was ihm in seinem Zimmer passiert ist, aber der Grund, warum er überhaupt vor das Gericht gekommen ist, wird vergessen. Am Ende findet K. sich teilweise wieder, und er bekommt Angst:

...K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache man mit der Verhaftung ernst und er sprang rücksichtslos vom Podium hinunter. Nun stand er Aug' in Aug' dem Gedränge gegenüber. Hatte er die Leute nicht richtig beurteilt? Hatte er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut? (Kafka, 57)

Er kann weder seine eigenen Reaktionen noch die der anderen Leute wirklich einschätzen, und er findet sich von seiner Ungebung entfremdet. Diese Entfremdungsgefühle anderer Leute tauchen häufig im Roman auf. Ein gutes Beispiel dafür ist K.s Begegnung mit seinem Onkel und die Reise zu dem Advokaten. K. erwartet seinen Onkel nicht, und als er mit seinem Onkel ist, benimmt sich K. kindisch und er wird wie ein Kind behandelt. Zuerst meint K., er wisse nicht, wovon sein Onkel rede, aber endlich gibt er es zu: " 'Lieber Onkel...ich weiß gar nicht, was Du von mir willst...Ich ahne ja, was Du willst...Du hast wahrscheinlich von meinem Proceß gehört' " (Kafka 96) Für K. ist das ganze nur ein Spiel und er will kein vernünftiges Gespräch mit seinem Onkel führen. Seine Verhaftung ist ihm immer noch nicht wirklich geworden, und er begreift nicht, daß es wichtig ist. Zum Beispiel fragt der Onkel K., was für ein Prozeß es sei, und K. antwortet: " 'Ein Strafproceß' antwortete K. 'Und Du sitzt ruhig hier und hast einen Strafproceß unter dem Halse?' rief der Onkel." (Kafka, 98)

In diesem Fall scheint K. der Hauptfigur von Albert Camus Roman L'Etranger ähnlich zu sein. In Camus' Werk ist es dem Helden egal, ob er stirbt oder nicht. Sein Leben hat keinen Sinn, und auch wenn es Sinn in der Welt gäbe, wäre er unfähig, ihn zu finden. Hier scheint es K. egal zu sein, wie es mit seinem Prozeß weiterläuft, und auch andere Menschen wie sein Onkel und seine Familie sind ihm gar nicht so wichtig. Als K. und sein Onkel zum Advokat fahren, wird er wie ein Kind behandelt. Statt am Gespräch teilnehmen zu dürfen, wird K. vergessen. Es wird über ihn gesprochen, genau wie voher über ihn gelacht wurde. K. findet nichts Vernünftiges zu sagen und wird dann ausgeschlossen:

"Was willst Du denn?" fragte der Onkel K. nochmals, "Du bist so unruhig." "Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen", fragte K. "Ja", sagte der Advokat. "Du fragst wie ein Kind", sagte der Onkel. "Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?" fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. (Kafka, 108)

Sogar die Struktur des Gesprächs weist darauf hin, wie unfähig K. ist, mitzureden. K. wird von allen Seiten zugleich angesprochen. Da er nicht mit dem Onkel und dem Advokaten gleichzeitig sprechen kann, hört er einfach auf, teilzunehmen. Wenn sich wegen eines Krachs die Möglichkeit ergibt, das Zimmer und die zwei Männer zu verlassen, sagt K.: "Ich will nachsehen, was geschehen ist." K. fühlt sich nicht verpflichtet, nachzuschauen, sondern er will es tun, um wegzusein.

Sobald er das Zimmer verläßt, begegnet er Leni, die Pflegerin des Advokaten. Leni gibt zu, daß sie den Krach nur deswegen gemacht habe, um K. aus dem anderen Zimmer herauszuziehen, aber K. denkt nicht über ihre Motive nach, oder darüber wie sie sicher war, er würde kommen, sondern sagt nur: "Ich habe auch an Sie gedacht." (Kafka, 111) Genau wie bei Fräulein Bürstner wird bald die Hauptsache nicht K., sondern Leni und K.s Sehnsucht nach ihr. Er läßt sich von seinen tierischen Instinkten statt von seiner menschlichen Vernunft beherrschen, und wie Harry Haller in Hesses Der Steppenwolf kann K. diese zwei Seiten seiner Existenz nicht miteinander vereinigen.

Diese Spaltung führt zu einer Art Entfremdung bei der Figur Josef K. Oft fühlt er sich unvorbereitet und unfähig, mit der Lage fertigzuwerden. Er kein seine Meinungen nicht logisch formulieren, und die Grenzen zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen sind unklar. Mit anderen Menschen kann er nicht richtig umgehen: mit anderen Männern muß er sich immer eine Machtposition aussuchen, und bei Frauen läßt er sich von seinen Trieben beherrschen. Als Folge seiner erfolglosen Machtversuche muß er sich in sich selbst zurückziehen, und er wird wie ein Kind behandelt. K. kennt sich selbst nicht, und deswegen wird seine Welt angstvoll und fremd. Sogar die Bank und seine Arbeit können sein Prozeß nicht aufhalten.

K.s Welt ist ihm ein Labyrinth. Sie verwirrt ihn und macht ihm Angst. Die Außenwelt ist dunkel und voller Lärm. Sie ist unendlich und chaotisch. Die Welt selbst ist K. fremd und macht seine Verwirrung noch schlimmer, als sie sonst wäre. Zum Beispiel kann er nicht das finden, wonach er sucht. Im ersten Kapitel sucht er seine Legitimationspapiere: "es lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich finden." (Kafka, 13) K. versucht, seine Innenwelt genau wie sein Zimmer in Ordnung zu halten, aber die dunkle und chaotische Außenwelt dringt immer näher.

Im Vergleich mit K.s immer geringer werdender Innenwelt ist die Außenwelt unendlich und auswegslos. Sie ist aber eine Welt der Türen. Die Wächer Franz und Willem kommen durch K.s Tür, um ihn am ersten Morgen zu verhaften: "Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein" (Kafka, 9). Im zweiten Kapitel ist die Tür aber der Weg zu Fräulein Bürstner selbst. Um das Gericht zu finden, muß K. zwischen vielen Türen wählen. Der Prügler und die gequälten Wächter stehen hinter einer Tür auf einem Korridor von K.s Bank, und bei dem Advokaten: "...war er [kaum] ins Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt, eine kleine Hand legte,...und die Tür leise schloß." (Kafka, 111) Die viele Türen im Roman führen in andere Welten - die Wirklichkeit, die K. bei Leni erlebt, ist keineswegs mit dem Gespräch mit dem Advokat zu vergleichen. K.s Welt ist ein Labyrinth - die viele Türen sind wie Wahlen und Möglichkeiten, aber sie zeigen auch, wie geheimnisvoll und begrenzt K.s Welt ist. In einem Labyrinth gibt es keinen geraden Weg, und man kann nicht gleich um die Ecke sehen. K. kann nicht durch geschlossene Türen sehen, er muß einfach einen Weg wählen, ohne zu wissen, was danach passieren wird.

Daß diese fremde Welt für K. zu groß und überwältigend ist, wird im vierten Kapitel deutlich gemacht. K.s Besuch in den Kanzeleien zeigt, wie unfähig K. ist, mit der Welt fertigzuwerden: "Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehn, wohin die Frau getragen wurde....Es zeigte sich, daß der Weg viel kurzer war...sie machte eine Wendung, so daß man ihr Ende nicht sah." (Kafka, 70) Gegen diese unfaßbare Welt kann K. sich nicht verteidigen. Er findet den Weg nicht, braucht die Hilfe anderer Leute und wird sogar krank. K.s Welt ist ein Labyrinth, das ihn verwirrt und schwach macht. Diese Außenwelt ist wie ein Spiegel seines inneren geistigen Zustands. Statt eines Gesamtbilds dieser Welt haben wir nur das, was hinter der nächsten Tür steht. Wie eine Welt, die durch viele geschlossene Türen gestaltet wird, ist K.s "Ich" gespalten und fragmentarisch, und seine Entfremdung wird vollkommen.

Ein mit der Entfremdung verwandtes Thema ist die Schuld, und genau. wie es viele Arten von Entfremdung gibt, kann die Schuld auf verschiedene Weisen auftauchen. Daß die Schuld K.s eine große Rolle im Roman spielt, wird zuerst durch seine Verhaftung klargestellt. Zugleich aber ist es auch klar, daß K.s Prozeß nicht mit irgend einer Art juristischer Schuld zu tun hat. Der Aufseher sagt ihm:

"Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht...so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich." (Kafka, 20)

Kein Gesetz wird je genannt, aber es muß sich doch um einen schweren Fall handeln, denn das Gericht "sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie es im Gesetz heißt von der Schuld angezogen..." (Kafka, 14) Daß K. das Gesetz nicht kennt, ist unwichtig, wie Franz feststellt: "...er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig schuldlos zu sein." (Kafka, 15), denn "Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich." (Hochzeitsvorbereitungen, 37) Obwohl K. hier kein Gesetz übertreten hat, ist er trotzdem schuldig, denn es geht darum, daß K. den falschen Weg betreten hat. Seine Schuld wird durch seine Handlungen mit anderen Leute ausgedrückt und weist auf eine weitere existentielle Schuld hin. Das Wichtige ist nicht genau das, was K. falsch gemacht hat, sondern das, was er nicht getan hat: seine Schuld ist eine Zielverfehlung im Leben, und ist dadurch ein Hinweis auf seine Entfremdung.

Eine häufig auftauchende Art Schuld im Roman ist die soziale Schuld. Sein Glauben an altmodische Sozialstrukturen und seine Art, andere Menschen nur als Mittel zu benutzen, in seinem Beruf weiterzukommen, sind die Schwerpunkte, die K. von anderen Menschen trennen. Daß K. die Menschen nach ihren Berufen und ihrer gesellschaftlichen Stellung einstuft, wird im ersten Kapitel während der Verhaftung deutlich, als K. sagt:

"Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn manch nicht Ihr Kleid... eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit." (Kafka, 20)

Später zeigt er seine Verachtung für Autorität und den Aufseher insbesondere: "K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht jüngern Menschen?" (Kafka, 21) Der Aufseher paßt nicht in die Rolle, die K. von so einem Beamten erwartet. Er ist zum Beispiel zu jung. Als er endlich seine Mitarbeiter aus der Bank erkennt, denkt er:

Diese so uncharakteristischen blutarmen jungen Leute,...waren tatsächlich Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewies eine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren es allerdings. (Kafka, 24)

Weil seine Mitarbeiter niedrigere Stellen haben als K. selbst, findet K. sich als wichtiger und die anderen als gar nicht bemerkenswert. An diesen Beispielen sieht man, wie K. seine bürgerliche Existenz und gesellschaftliche Stellung als Basis benutzt, andere Leute als niedriger zu beurteilen und sie zu verachten.

Es gibt auch die Leute, die K. benutzt, um Einfluß zu gewinnen und weiterzukommen. Im ersten Kapitel sagt er dem Aufseher: " 'Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund... kann ich ihm telephonieren?' " Der Aufseher antwortet: " 'Gewiß...aber ich weiß nicht welchen Sinn das haben sollte' " (Kafka, 21) Er kennt nur seinen Auftrag, und daß K. mit hohen Beamten befreundet ist, macht ihm nichts aus. K. wollte aber gerade zeigen, daß er wichtig sei, und nicht nur ein kleiner Angestellter, den man leicht verhaften könne. Josef K. trifft sich oft mit "meist älteren Herren" in einer Bierstube. Wenn man sich fragt, warum gerade der 30. Jahre alte Josef K. mit älteren Herren zu tun hat, fällt es einem auf, daß diese älteren Herren wahrscheinlich einflußreich und wohlhabend sind. Nicht aus Freundschaft, sondern aus sozialen Hinsichten, hat K. mit anderen zu tun. Weiter geht es, daß er die Herren nicht trifft, wenn der Bankdirektor ihn "zu einer Autofahrt zu einem Abendessen in seiner Villa" einlädt (Kafka, 26) Man könnte vielleicht behaupten, K. mache nur das, was auch andere Leute machen würden, und darin keine Schuld bestehe, aber K.s erste Begegnung mit dem Gericht spricht dagegen. K. wird gefragt: " 'Sind Sie Zimmermaler?' " K. antwortet " 'Nein...sondern erster Prokurist einer großen Bank.' " Aber: "Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter," (Kafka, 50) Wenn er gefragt wird, ob er Zimmermaler sei, antwortet er nicht nur, daß er Prokurist in einer Bank ist, sondern auch daß er der erste Prokurist in einer großen Bank ist. K. einen Zimmermaler zu nennen, ist nicht nur ein Fehler des Untersuchungsrichters, sondern auch eine Anklage gegen K., daß er seine Stelle in der Bank nicht selbst verdient habe, sondern nur durch seine Beziehungen zu einflußreichen Menschen erreicht habe. Diese Art Schuld geht auf K.s Spaltung zurück - er ist nicht der Mensch, der er sein soll, sondern nur eine Maske, die mit oberflächlichen Mitteln aufgebaut wird. Wer der wirkliche Josef K. ist, entdeckt man erst durch eine Untersuchung seiner zwischenmenschlichen Beziehungen.

Mit der gesellschaftlichen Schuld eng verwandt ist die zwischenmenschliche Schuld, von K.s Handlungen anderen Menschen gegenüber. Insbesondere sind seine Familie und seine Beziehungen zu Frauen in diesem Fall untersuchungswert.

K. hat nur eine schwache und entfremdete Beziehung zu seiner Familie. Zum Beispiel besucht er seine Mutter nur selten, obwohl sie ihn gern sehen würde. Als sein Onkel ihn besucht: "erschrak [K.] bei dem Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung des Kommens des Onkels erschrocken war." (Kafka, 95) Er trifft sich nicht gern mit dem Onkel, und er empfindet die Verpflichtung, "in allem möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen," als eine Belastung. (Kafka, 95) Er hat wenig Kontakt zu seiner Familie, und es ist nur durch seine Cousine Erna, daß der Onkel und die Tante von K.s Prozeß lernen. Auch zu Erna hat K. nur schwache Beziehungen:

er hatte... vollständig Erna vergessen, sogar ihren Geburtstag hatte er vergessen... aber zu Besuchen in der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen siebzehnjährigen Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet. (Kafka, 98)

Aber K. erkennt, daß er " 'der Familie Rechenschaft schuldig' " ist. (Kafka, 99) Man sieht, daß es K. schwer fällt, gute Beziehungen mit anderen Menschen aufzubauen. Er fühlt sich unsicher oder ängstlich, wie bei seiner Cousine und bei seinem Onkel. Normalerweise wird ein Mensch teilweise durch seine Verbindung zu seiner Familie definiert, und ohne diese Verbindung geht der Mensch verloren und muß seinen eigenen Weg in der Welt allein finden:

"ich bin allerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat durchschlagen müssen" (Kafka, 19)

Bei seinen Beziehungen zu Frauen wird K.s Unfähigkeit klar, gesunde sexuelle Beziehungen zu haben. Statt zu der Liebe zu führen, wird K.s Geschlechtstrieb mit tierischer Erotik und Entfremdung verbunden. Einmal in der Woche geht K. zu einem Mädchen namens Elsa, die "während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfieng." (Kafka, 26) Für K. ist sie nur eine Prostituierte: er kommt und er geht, wenn er will, und die beiden haben keine feste Verbindung zueinander. Er sagt Leni, Else sei seine Geliebte, aber daß sie ihm nicht sehr wichtig sei. Seine Nachbarin Fräulein Bürstner sieht er nicht oft, aber von Anfang an ist sein Interesse an sie fast nur sexuell. Logischerweise muß er nicht sofort mit ihr sprechen, aber trotzdem wartet er auf sie, als ob er dazu gewungen wäre. Im Gegensatz zu den Wächtern, von denen nur die Anzüge ausführlich beschrieben werden, ist bei Fräulein Bürstner das Körperliche am wichtigsten. Wenn sie sich im Zimmer hinsetzt, wird bemerkt, "sie kreuzte leicht die Beine" (Kafka, 33). Bald danach "machte [sie], die flachen Hände an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch das Zimmer." (Kafka, 34) Sie "saß auf der Ottomane und lachte wieder" und K. wird "vom Anblick des Fräulein Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stürzte...während die andere Hand langsam die Hüfte strich." (Kafka, 36) K. sieht sie an und vor "sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig bebauschtes, fest zusammengehaltenes rötliches Haar." (Kafka, 38) Sie ist ihm kein Mensch, sondern ein Kunststück oder Objekt. Sie reizt ihn auf, und sobald sie Angst bekommt, nimmt K. wieder eine Machtposition auf und sagt: "Fürchten Sie nichts... ich werde alles in Ordnung bringen." (Kafka, 37) Von jetzt an ist sie ihm nur etwas Sexuelles. Er "küßte... ihre Stirn," (Kafka, 38) und, obwohl sie will, daß er gehe, "faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk" (Kafka, 39) Er kann sie nicht loslassen und muß immer stärker zugreifen. Seine menschliche Kontrolle wird von seinen tierischen Instinkten beiseite geschoben, und als er geht zurück in sein Zimmer:

lief er vor, faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie eine durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellenwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen. Kafka, 39)

Aber als er sich wieder besinnt, sieht er nicht, daß er Fräulein Bürstner mißhandelt hat: "vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden," (Kafka, 40) Seine Schuld liegt nicht nur darin, wie er Fräulein Bürstner entmeschlicht hat, sondern auch darin, daß er sich von seinen Trieben beherrschen läßt, und daß er wegen dieser Spaltung zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen nicht mehr in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Diese Selbstverlorenheit taucht auch bei seiner Begegnung mit Leni auf. Als er sie zuerst sieht, merkt er sich ihre körperlichen Eigenschaften: "K. staunte das Mädchen noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstüre wieder zu versperren, es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder." (Kafka, 104) Sein erster Eindrück ist von einer Puppe - einem Kunststück oder einem Spielzeug, etwas, was entweder angeschaut wird, oder womit man spielt. Als K. später mit Leni allein ist, sind es wieder ihre körperlichen Merkmale, die ihn anziehen: "Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte." (Kafka, 115) Schließlich küßt K. sie und "mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schooß...beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst seine Haare." (Kafka, 116) Für K. ist es gerade das Körperliche, was ihn anreizt, und die Liebe selbst hat keine Rolle. K. vergißt, wo er ist, und für ihn verliert die Zeit ihre Bedeutung. Als er das Haus verläßt, kommt er in die bürgerliche Welt zurück, und lernt, daß er stundenlang mit Leni allein im Zimmer war. Seine Verhältnisse mit Frauen beziehen sich offensichtlich nur auf das rein Sexuelle und das Tierische. Es ist deshalb kein Wunder, daß es sich um ein Fräulein, ein Mädchen, und eine Pflegerin, statt um Menschen und sogar Frauen handelt. K.s Schuld liegt darin, andere Menschen nicht als Menschen, sondern als Objekte zu betrachten. Durch seine Beziehungen zu seiner Familie und zu Frauen sieht man, wie K.s persönliche Schuld sich zu einer Entfremdung von anderen Menschen entwickelt.

Die Hauptsache ist aber seine existentielle Schuld, die durch die anderen Arten von Schuld gezeigt wird, und, daß es durch diese Zielverfehlung dazu kommt, daß K. sich von anderen Menschen, der Gesellschaft und am wichtigsten von sich selbst entfremdet. Sein Leben selbst wird falsch geführt: nur sein Beruf ist ihm wichtig, seine Familie hat keinen Platz in seinem Leben und die Frauen, die er kennt, sind nur sexuelle Objekte. Die Behauptung, es handele sich um existentielle Schuld, wird dadurch gestärkt, daß K. diese Schuld nicht nur nach der Verhaftung sammelt, sondern auch voher. K. behauptet, er behandele Fräulein Bürstner und die andere Frauen wie Objekte, weil er "Helferinnen [werbe]...zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin," (Kafka, 114) Er glaubt, es wegen der Verhaftung und seines Prozesses tun zu müssen, aber die älteren Herren, Else und seine Familie existierten schon bevor seiner Verhaftung, und seine Schuld ist etwas, was er über längere Zeit - während seiner ganzen Existenz - gesammelt hat.

K.s Schuld ist zusammen mit der labyrinthischen Welt und seinem gespaltenen Ich eine tödliche Mischung, die auf eine entfremdeten Existenz hinweist. Im Gegensatz zu theologischen, sozialistischen und romantischen Vorstellungen von Entfremdung handelt es sich im Proceß um existentielle Entfremdung, die durch eine Verfehlung des ganzen Lebenszieles erklärt wird. K. glaubt an altmodische Sozialstrukturen, benutzt Leute für seine eigenen Zweck und behandelt sich selbst und andere Menschen unmenschlich oder sogar animalisch. Er benimmt sich verwirrt und verzweifelt und drückt sich nur unklar aus. Außerdem kann er seinen Platz in der Welt nicht finden, und die Welt bleibt ihm ein Geheimnis. Vielleicht muß er sein Leben ändern, den geraden und klaren Weg finden oder sogar die bürgerliche Welt, wonach er so lange gestrebt hat, endlich aufgeben. Das Ziel, das verfehlt wird, ist vielleicht nicht klar, aber K. muß durch Türen gehen, bis er eine findet, die ihm den Weg zeigt.

Was wir bis jetzt haben, ist eine Beschreibung von K.s Zustand, davon wie er entstanden ist und wie K. noch schuldiger wird. Seine Entwicklung - oder der Mangel daran - ist eine weitere Frage, die auch untersucht und beantwortet werden muß. K.s Verhaftung bedeutet den Anfang seines Prozesses, aber was der Prozeß eigentlich ist, und was sein Ziel ist, bleibt noch unerklärt. Durch eine Untersuchung der Bedeutung des Titels, Kafkas Schreib-Prozesses und der Handlung des Romans, des Motivs des Gefangenseins und was das Gericht für Josef K. und den Roman bedeutet, kann es festgestellt werden, daß der Prozeß und das Gericht Mittel für K. sind, seine Schuld zu erkennen, aber daß sie Mittel sind, auf die K. verzichtet.

Ein Versuch, die Bedeutung von K.s Prozeß zu finden, muß mit der Bedeutung des Titels anfangen. Aus dem Lateinischen übersetzt hat das Wort 'Prozeß' eine Bedeutung von "weitergehen" und "Fortschritte machen". Das Wichtige am Titel ist diese Bewegung, daß es nötig sei, sich zu entwickeln. Deswegen ist der gesetzliche Prozeß ein Mittel der Selbstentdeckung, und es hat ein Ziel - genau das, was K. braucht. Der Titel weist auch darauf, daß obwohl K.s Welt ein großes Labyrinth sei, es noch einen Weg gibt, der nach vorne geht.

Kafkas Schreib-Prozeß ist auch für die Analyse wichtig. Kafka schrieb "Das Urteil" in einer Nacht, aber sein Roman Der Verschollene ging immer weiter und blieb immer unvollendet. Normalerweise fing Kafka am Anfang einer Geschichte an, aber wurde Der Proceß anders behandelt. Der erste und der letzte Kapitel erschienen fast gleichzeitig, und erst danach hat Kafka die "Zwischen-Szenen" geschrieben. Was dies für die Geschichte bedeutet, ist ziemlich klar: der Anfang und das Ende standen in den Augen Kafkas fest. Am Anfang wird K. verhaftet und am Ende wird er hingerichtet, aber was in der Mitte kommt, ist "Entwicklung" - was zwischen der Verhaftung und der Hinrichtung kommt, ist der Prozeß selbst. Für K. bedeutet es, daß nur seine Existenz innerhalb des Romans Bedeutung hat. Der Prozeß ist ein Weg, auf den K. sein Leben rechtfertigen kann: die vielen Episoden geben ihm vielleicht sogar die Gelegenheit, sein Schicksal zu ändern und seine Hinrichtung zu vermeiden, denn Kafka selbst hätte das Ende immer umschreiben können.

Als Beispiel eines Motivs, das für K.s Schicksal wichtig zu sein scheint, sollte man das Thema des Gefangenseins näher anschauen. Es ist ein immer wieder auftauchendes Motiv im Roman, das einerseits zeigt, wie K.s Welt einem Gefängnis ähnlich ist, aber der zugleich K. den Weg zeigt, und ein integraler Teil seines Prozesses ist. Im ersten Kapitel taucht das Motiv zum ersten Mal auf. K. sagt, er sei von der Verhaftung nicht sehr überrascht:

"Nicht sehr überrascht?" fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des Tisches, während er die andern Sachen um sie gruppierte. (Kafka, 19)

Die Kerze wird von anderen Sachen umringt - oder gefangen. Als Motiv spielt das Gefangensein wieder im Kapitel mit dem Maler Titorelli eine Rolle. K. schaut sich das Zimmer des Malers an und bemerkt:

er wäre niemals selbst auf den Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen könnte.... Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen. (Kafka, 151)

Die Ritzen sind in diesem Fall wie die Lücken zwischen den Gittern eines Käfigs. Am Ende schaut K. dann zum Fenster hinaus und sieht: 'zwei kleine Kinder hinter einem Gitter" (Kafka, 236) Obwohl das Motiv öfters auftaucht, ist seine Bedeutung im Roman jedesmal immer ein bißchen anders. Die Kerze zeigt Hoffnung: obwohl K. verhaftet wird, hat er diese Möglichkeit, einen Weg zu finden. Die Kerze kann doch Licht werfen, sogar wenn sie umringt wird. Titorellis Zimmer zeigt aber, wie K. und andere Menschen sich von der Welt abschließen und andere Leute nicht hineinlassen. Am Ende aber werden sogar die Kinder abgeschlossen, und obwohl sie es versuchen, können sie sich nicht befreien. Jedesmal wird K.s Zustand gezeigt: am Anfang wird er verhaftet, aber noch nicht beurteilt. Im Laufe des Romans geht K. aber nicht viel weiter, und er ist selbst dafür verantwortlich, daß er von der Welt abgeschlossen bleibt. Die Kinder sind am Ende wie K.: hilflos und ohne Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den anderen Figuren hat K die Möglichkeit, einen Ausweg zu finden, aber nach diesem Ausweg sucht er nicht.

Das Motiv des Gefangenseins ist ein Zeichen für K.s Zustand und auch für seine Möglichkeiten und Schicksal, aber das Gericht selbst ist der Weg, auf den K. seine Schuld erkennen und sein Leben ändern könnte. Am Anfang des zweiten Kapitels steht:

K. war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß diese Untersuchungen nun regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche so doch häufiger einander folgen würden. (Kafka, 41)

Obwohl Kafka selbst aus einer jüdischen Familie kam, war er selbst nicht fromm, und es gibt keinen Hinweis darauf im Roman, ob K. ein religiöser Mann ist. Daß diese Untersuchungen aber am Sonntag stattfinden werden, deutet auf einen Zusammenhang zwischen dem christlichen Gottesdienst und dem Gericht selbst. Das Gericht ist ein Ersatz für die Konfession. Aber die ganze Beschreibung des Gerichts deutet mehr auf eine psychoanalytische statt auf eine religiöse Untersuchung. Kafka war mit den Werken Freuds vertraut, obwohl er mit Freuds Analyse selbst nicht einverstanden war. Das Gericht spielt die Rolle des Über-Ichs. Zum Beispiel merkt man, wie die erste Untersuchung oben fast auf dem Dachboden stattfindet. Die psychoanalytische Deutung des Roman wird dadurch gestärkt, daß nur die Außenwelt für K. Bedeutung hat. Das Gericht scheint auch, gleichzeitig überall zu sein und nirgendswo zu finden. Wie ein schlechtes Gewissen werden das Gericht und seine Behörden "von der Schuld angezogen" (Kafka, 14) Diese psychologische Deutung muß aber nicht unbedingt "freudisch" sein - es gibt auch Beweise dafür, daß das Gericht ein kollektives Unbewußtsein darstellt. Das Überallsein und die riesige Natur des Gerichts spricht dafür, aber auch ist zu merken, wie das Gerichtzimmer bei der ersten Untersuchung mit Menschen überflutet ist:

K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute... füllte ein mittelgroßes zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt war... (Kafka, 47)

Und wie Titorelli bemerkt: "Auch diese Mädchen gehören zum Gericht... Es gehört ja alles zum Gericht." (Kafka, 158) Es gibt aber nichts Göttliches im Roman. Auch K.s Besuch im Dom ist unreligiös. Das Gericht stellt ein Dasein dar, das mehr als K. selbst ist, und das im Laufe des Romans eine immer größere Rolle spielt.

K.s Schuld ist persönlich und das Gericht ist ein persönliches Gericht, das nur für K. Bedeutung hat. Wie er aber mit dem Gericht zu tun hat, und wie er seinen Prozeß laufen läßt, entwickelt sich in den mittleren Kapiteln des Romans. Zum Beispiel geht er zu dem Maler Titorelli, der ihm sagt, was für Befreiung es gibt: "nämlich die wirkliche Freiprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung." (Kafka, 160) Es wird ihm klar gemacht, daß niemand die wirkliche Freisprechng bekommt, aber daß wenn er wirklich unschuldig sei, er habe die Möglichkeit sie zu bekommen. Die scheinbare Freispruch kann er doch bekommen, aber wenn er sie hat, ist er immer noch nicht frei, denn er kann um jede Zeit wieder verhaftet werden. Die letzte Art ist die Verschluppung, die darin besteht: "daß der Proceß dauernd im niedrigsten Proceßstadium erhatlten wird" (Kafka, 168) Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung sind Weise, das Gericht zu umgehen und die Schuld nicht begegnen zu müssen. Um sein Prozeß weiter abzulehen, benutz K. einen Advokat, der Richter und anderen Gerichts-Leute kennt, und der K. mit seinem Prozeß helfen soll. Aber K.s Schuld und sein Prozeß sind persönlich statt juristisch, und der Geistliche sagt K. im Dom: "Du suchst zuviel fremde Hilfe... besonders bei Frauen. Merkst Du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist." (Kafka, 224) Daß K.s Schuld persönlich ist, muß er selbst entdecken, aber er verzichtet darauf, seinen eigenen Weg zu finden. Er sucht Hilfe bei Frauen: seine Helferinnen. Er benutzt den Advokat, als Mittel, das Gericht nicht persönlich zu begegnen, und er besucht Titorelli, um herauszufinden, wie er das Gericht umgehen kann. Als er das Gericht begegnet, will er mit der Untersuchung nicht weitergehen, sondern er klagt das Gericht an.

Wenn der Prozeß eine psychologische Projektion K.s sei, dann sei die fremde Hilfe psychologische Mittel, sich von seinen Schuldgefühlen und der wirklichen Welt abzuschließen. Der Prozeß ist kein juristischer Prozeß, sondern ein Prozeß, der für Josef K. allein stattfindet, damit er seine eigene Schuld und Entfremdung erkennen kann. Aber K. benutzt jedes Mittel, um diese Verantwortung zu vermeiden. Er will nicht von Schuld hören, sondern von Unschuld: "Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein? Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere." (Kakfa, 223) Wenn gefragt, ob er schuldig sei, antwortet er immer nein, - das Ganze sei nur ein Irrtume. Diese Nichtanerkennen des Gerichts und seiner Schuld führt zur weiteren Entfremdung, die nur mit einem Urteil enden kann: K.s Tod.

K.s Tod - seine Hinrichtung oder seine Ermordung - steht am Ende des Romans, genau wie seine Verhaftung am Anfang steht, als ob es immer klar war, daß es nur ein Ende geben könnte. Im Gegensatz zu Franz und Willem, die K. an seinem 30. Geburtstag überfallen, kommen seine beide Henker einfach in seine Wohnung hinein. Ohne viel zu sagen, gehen die drei aus der Wohnung und durch die Stadt. K. wird von seiner Wohnung, seinem Leben, und den Leuten, die er kennt, entfernt:

So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung hast ohne Übergang an die Felder anschloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines noch ganz städischen Hauses. Hier machten die Herren halt (Kafka, 240)

Im Steinbruch bereiten die Henker K. für seinen Tod vor, aber sie selbst können sich nicht entscheiden, wer den Auftrag hat, K. umzubringen. K. bemerkt: "er wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren." (Kafka, 241) Genau wie es sich um K.s persönliche Schuld und einen persönlichen Prozeß handelt, geht es hier um einen persönlichen Tod: den Selbstmord. Aber auch wie K. darauf verzichtet hat, die Verantwortung für seine Schuld selbst in die Hand zu nehmen, kann er jetzt sein bedeutungsloses Leben nicht enden. Deshalb wird er von den Henkern ermordet: "an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte." (Kafka, 241). Sein Tod ist bedeutungslos und wird von niemandem gesehen, außer den zwei schweigenden Herren. Daß K. selbst den Tat nicht vollziehen kann, ist eine Scham, und er stirbt "'Wie ein Hund' ". (Kafka, 241)

In vielen Werken Kafkas ist der Tod die Lösung, wie z.B. in dem "Urteil", in dem Georg Bendemann von seinem Vater zum Tode verurteilt wird. Der Tod wird oft als die Lösung zur Entfremdung und zur Schrecklichkeit der menschlichen Existenz gesehen. Schopenhauers Philosophie, wie es in Die Welt als Wille und Vorstellung gestellt wird, zeigt einen positiven Wandel für unmöglich. Schopenhauers Pessimismus beschäftigt sich mit dem "Ding an sich" und den wirklichen und tiefen Eigenschaften der Welt. Bei Schopenhauer, Nietzsche und Anderen ist die "Welt and sich" zu schrecklich für die Menschen zu erleben - sie ist die Hölle - und die Menschen sind Sklaven zur ihren Trieben.

Sowohl bei den Philosophen als auch bei den Dichtern gibt es oft einen "Ausweg" durch die wahre Kunst. Nietzsche glaubt, die Kunstler haben eine besondere Beziehung zu dem, was wirklich ist. Die Kunst bietet die wahre Schönheit an, und - obwohl nur momentan - der Mensch fühlt sich erleichtert. Sogar Kafka bietet eine ästhetische Lösung an: die scheinbare Freisprechung. Titorelli - ein Künstler - kann diese Art Freisprechung anbieten. Sie ist aber keine dauernde Lösung, und der Prozeß kann immer wieder vom Anfang an beginnen. Für Nietzsche und andere Denker ist die Kunst nur eine kurzfristige Lösung, und die Schrecklichkeit des Lebens - die Schuld und der Prozeß - tauchen immer wieder auf. Weil die Kunst keine dauernde Lösung ist, ist sie auch keine Lösung für K. Weil das Ideal - die Kunst - durch einen Mittel erreicht werden muß, bleibt es im Wesentlichen unerreichbar, wie Kafka in der Geschichte "Vor dem Gesetz" schreibt:

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren kann. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglicht", sagt der Türhüter. (Kafka, 226)

Das Gesetz - das auch nur für den Mann bestimmt ist - bleibt ihm unerreichbar, weil ihm das Mittel fehlt, das er braucht, um durch die Tür zu gehen. K. fehlt es auch dieses Mittel, und er bleibt verwirrt und allein in einer fremden Welt. Deshalb ist der Tod seine einzige Lösung.

Man könnte behaupten, K. erreicht seine Möglichkeiten nicht, weil er seine Existenz in der Gesellschaft, in der er sich findet, nicht rechtfertigen kann. Deswegen ist die Gesellschaft für seine Unfreiheit, Verfolgenheit und Sterben verantwortlich. Aber die Gesellschaft in K.s Welt hat keine wesentlichen Eigenschaften, und dieser Gesellschaft fehlt es die Kraft, gegen K. zu wirken. K.s Welt ist nicht Schopenhauers "Welt-Wille", sondern sie ist auch ein Opfer der Sinnlosigkeit, die K. erlebt. Auch wenn die Gesellschaft teilweise für K.s Entfremdung verantwortlich sei, trägt K. immer noch die Verantwortung, eine Lösung zu finden, und einen geraden Wege durch eine Welt, die ihm ein Labyrinth ist, zu finden.

Die Entfremdung und Schuld K.s sind die Haupteigenschaften der Figur selbst. Er befindet sich in seiner Welt nicht zurecht, aber K. hat noch die Möglichkeit, seine sinnlose Existenz umzudrehen und Bedeutung zu finden. Das Traurige ist aber, daß K. auf diese Gelegenheit verzichtet. Ihm wird der Prozeß als ein Mittel geboten, seine Schuld zu erkennen, damit er seine entfremdete Existenz neubeginnen kann. Aber weil er die Gelegenheit nicht benutzt, sein Leben zu ändern, bleibt nur der Tod als Endlösung.


Literaturverzeichnis

Kafka, Franz. Der Proceß. Roman, Frankfurt a. M.: Fischer 1995.
Kafka, Franz. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hg. Max Brod, Frankfurt a. M.: Fischer 1983.